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Die Getretenen – Seite 2

Wir hatten ihn gefunden. Es war zu spät, er hatte seine Drohung wahr gemacht. Ein paar Wochen vorher noch, war dieser vierzehnjährige Wuschelkopf zu unserem Haus der Älteren gekommen und hatte sein Leid geklagt. Letztlich blieb er in dem Konflikt mit den Hauseltern und den Mitbewohnern alleine. Er hatte wohl keinen Ausweg mehr gesehen und die letzte Konsequenz gezogen, die einem Menschen möglich ist.

Nicht jeder Getretene zieht diese Konsequenz. Der Nordrheinwestfale wurde kriminell. Ein anderer den ich kennenlernte, wollte mit Salzsäure einen Zigarettenautomaten aufknacken. Ist das jetzt vierzig Jahre her? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass der Versuch kläglich scheiterte. Der Automatenaufsteller wird über den Schaden, den er angerichtet hat, wahrscheinlich geflucht haben. Ein Verlustgeschäft für alle Teilnehmer. Der Vorsatz keine Namen zu verwenden und zu nennen führt nun zu alternativen Namen. Den Menschen, der den Zigarettenautomaten mit Salzsäure knacken wollte, werde ich Jahrmarktsjunge nennen. Im Gegensatz zum Nordrheinwestfalen war er eher klein und schmächtig. Ich kann mich nicht einmal erinnern, ob die beiden sich jemals kennengelernt hatten. Aber sie waren im ungefähren gleichen Zeitraum. Irgendwann nach dem Tod des Vierzehnjährigen. Das muss fünf Jahre danach gewesen sein.



Den Jahrmarktsjungen nenne ich so, weil er ein Kind von Schaustellern war. Er verschaffte mir mal einen Job beim Aufbau eines Karussells oder war es ein Autoscootergeschäft. Oder vielleicht war es auch beides. So genau weiss ich es nicht mehr. Lastwagen entladen und Teile schleppen. Wenn der Rummel dann vorbei ist und alle Leute nach Hause gegangen sind in den frühen Morgenstunden von Sonntag auf Montag die Lastwagen wieder mit den Teilen beladen. Spätestens Montagmittag finden die Bewohner des Kreisstädtchens einen leeren Platz vor, denn der nächste Rummel wartet schon. Ein harter Job ist das.

Die Landknechtstochter machte die Tür auf. Ihre Augen waren freudig erregt. „Ich habe keine Zeit!“ sagte sie durch die Türspalte und schickte mich weg. Es war jetzt klar. Sie hatte sich für den Bauernburschen entschieden. Sie würde jetzt Sex haben. Die Perle, die ihr geschenkt wurde, war eine verschwendete Ausgabe. Dann eben mit dem Nordrheinwestfallen Pfandflaschen klauen und am nächsten Tag einlösen.

Ich stand an der Kreisstraße und wartete. Der KTW näherte sich und ich sprang auf die Straße. Hier war die Einfahrt in den Wald, wo sich ein paar hundert Meter weiter der Vierzehnjährige erhängt hatte. Sie hielten an und ich setzte mich auf den Beifahrersitz. „Er ist tot.“ sagte ich. Selbstverständlich wusste ich, dass er offiziell noch nicht tot war. Das würde später ein Arzt feststellen. Es gab mal einen erfahrenen Notarzt, der hat uns intubieren üben lassen. Wir konnten nichts mehr falsch machen, denn das Unfallopfer war leider nicht mehr zu retten. Wir hatten uns auf der Fahrt in das Krankenhaus bemüht. Aber manchmal ist jede Mühe vergebens. Ich weiß nicht einmal, ob das legal ist, das der Arzt nach der Feststellung des Todes uns das intubieren zeigte und üben lies. Doch offiziell gab es zu dem Zeitpunkt noch keinen Totenschein. Die Fahrt in das Kreiskrankenhaus dauerte mindestens noch dreissig Minuten. Vielleicht erscheint das jemanden als kalt. Doch ich hatte auch Verständnis für diesen Arzt. Wir rückten von der Wache als Krankentransportwagen nämlich immer ohne Arzt aus. Ein Arzt kam nicht immer rechtzeitig dazu. Vielleicht rettet ja diese Übung eines Tages jemandem das Leben. Auch diesmal war kein Arzt an Bord als wir den Vierzehnjährigen abholten. Die Praxis sieht so ganz anders aus, als in den ganzen Krimis. Selbst wenn es Mord gewesen sein sollte, hat schon der Lehrer mit der Aktion „Holt ihn da runter!“ alles verändert.

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