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Soziale Dissonanz

2017 definierte ich für für mich den Begriff, weil eine flüchtige Recherche bei Google damals ergab, dass es keine Definition dazu gab. Zwar fand ich die Verwendung der beiden Worte in zwei drei wissenschaftlichen Arbeiten, ohne dass die jeweiligen Autoren spezifizierten, was sie damit meinten. „Demgemäß  soll  man  im  Bereich  des  menschlichen  Lebens  soziale  Dissonanz  vermeiden.„(https://journals.co.za/doi/pdf/10.10520/EJC85501 2002 Seite 722) oder „Chaos ist soziale Dissonanz, die verhindert, dass Zusammenleben eine Ordnung erhält, die mit der Natur des Menschen verträglich wäre.“ (https://www.ife.uzh.ch/dam/jcr:ffffffff-ddf6-e1f2-ffff-ffffb34ae60d/GesamtFS09.pdf 2009 Seite 85) Was ich auch fand sind Arbeiten von Professor Dr. Friedemann Nerdinger (Rostock) und Prof. Dr. Winfried Hacker, die laut ReportPsychologie (Ausgabe 1/2012) die soziale Dissonanz als Kernproblem bei dem Thema „Emotionale Dissonanzen im Beruf machen krank“ sehen.

Je mehr Oberflächenhandeln während der Arbeit gezeigt wird, desto  stärker nehmen die negativen affektiven Zustände im Lauf der Arbeit zu.  Besonders stark findet sich dieser Zusammenhang bei Frauen – vermutlich  erleben sie die Diskrepanz zwischen erlebten und dargestellten Gefühlen  intensiver als Männer und reagieren mit negativen Emotionen darauf.  Daraus kann möglicherweise ein Teufelskreis entstehen, der langfristig  zu Burnout führt.“ wird Prof. Nerdinger dazu zitiert. Hierfür ist emotionale Dissonanz wohl auch der treffendere Begriff als soziale Dissonanz. Die Darstellung von Nerdinger bezieht sich auf intrapersonelle Vorgänge, die zwar soziales Handeln betreffen. Nach der damaligen Recherche entschloss ich mich in http://arnold-schiller.de/soziale-dissonanz/

„Den Begriff gibt es so in der öffentlichen Diskussion nicht. In der  Musik steht die Dissonanz für „auflösungsbedürftige“ Tonkombinationen.  In der Psychologie ist die Dissonanz ein Widerspruch von Entscheidung  und Wahrnehmung und die daraus folgende innere Spannung. Im übertragenen  Sinne ist eine soziale Dissonanz also Unstimmigkeiten in Gruppen oder  Gesellschaftsschichten.“

so zu definieren. Aufgrund eines Tweets von https://twitter.com/Knaebchen82/status/1448993092753891329 meinte ich dann „Ich müsste mal einen Artikel schreiben über soziale Dissonanzen und psychische Störungen in der Gesellschaft“

2017 schrieb ich ja bereits: „Tatsächlich betrachte ich unsere bundesdeutsche Gesellschaft als nicht mehr stimmig. Vielleicht war sie es nie.“ und die Schilderung von @knaebchen82:

  Soeben in einer voll besetzten SBahn… Rollstuhlfahrerin zu einer Frau neben ihr: „Guten Tag, bitte setzen Sie Ihre Maske auf. Ich habe einen Immunkrankheit. Die Impfung wirkt bei mir nur eingeschränkt.“ Frau lacht und ignoriert das. Rollstuhlfahrerin: „Sie sehen, ich kann nicht ausweichen, es ist zu voll. Ich bitte Sie nochmals.“ Frau tritt gegen den Rollstuhl und schimpft los: „Es ist mir egal. Eine Maske ist eine Grundrechtsverletzung. Sie tragen selbst eine, das muss reichen.“ Umherstehende gaffen nur. Ich mische mich ein. Und sage, dass zwei Masken sicherer als eine sind. Frau beschimpft mich. Ergebnis: Es ist allen scheißegal, Rollstuhlfahrerin ist ängstlich und die Frau denkt, sie sei im Recht.  Eine Station später steigt die Rollstuhlfahrerin aus.

brachte mich wieder auf diesen Begriff was ich als größtes Problem in Deutschland betrachten würde. Selbstverständlich war es schon immer so, dass ein ganzer Staat nicht als eine einzige soziale Gruppe betrachtet werden kann. Hierbei ist bei den meisten Nationalstaaten die gemeinsame Sprache einer der gemeinsamen Nenner. In einem übergeordneten Zusammenhang geht aber die soziale Vernetzung bis in die Lingua Franca, welches heute das Englische ist. In der Lingua Franca treten die Stimmigkeiten hervor und trotz aller Unstimmigkeiten wird in einer gemeinsamen Sprache ein Austausch gesucht. Dies hat sich – verursacht durch die Europäer – in der Zwischenzeit auf die gesamte Welt ausgedehnt. Das ist aber mit Vorsicht zu betrachten, denn es geschah in vielen Regionen nicht freiwillig. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften ist die menschliche Gesellschaft nicht objektiv betrachtbar, da kein Mensch ausserhalb der Menschheit stehen kann und immer nur einen individuellen Blick aus dem Innenraum der menschlichen Gesellschaft nehmen kann. Das bedeutet jetzt nicht, dass es keine Erkenntnisse darüber geben könnte, aber diese Erkenntnisse verfügen über keine objektive Sprache.

Dazu ein Beispiel, dass die deutsche Sprache über keine Augmentativa verfügt und auch die Zahl der Diminutiva hält sich im Vergleich zum Russischen in Grenzen. Auch das Englische verfügt über diesen Mangel. „Eine Maske ist eine Grundrechtsverletzung.“ scheint nun ein einfacher Satz zu sein, aber schon in der gleichen Sprache ist dieser Satz nicht so einfach, wie er zunächst erscheint. Die Sprecherin gehört offensichtlich einer sozialen Gruppe an, die ein völlig verdrehtes Werteverständnis hat. Der Satz an sich ist nachweislich falsch, da der Gegenstand an sich keine Rechtsverletzung darstellen kann. Nun ist aber anzunehmen, dass die Frau einer gesamten sozialen Gruppe angehört, die diese Überzeugung hat. Die Grenzen unserer Sprache sind auch die Grenzen unserer Welt. Begriffe können einfach übernommen werden ohne die Begriffe selbst nachvollzogen oder definiert zu haben. Wir denken weder über unsere Grammatik nach, wenn wir sprechen und schon gar nicht denken wir darüber nach, warum es in unserer Muttersprache gewisse Konstrukte nicht gibt. Aber darüber hinaus wird nicht über die gemeinsame Bedeutung innerhalb eines Sprachraums reflektiert.

Die scheinbaren Stimmigkeiten der gemeinsamen Sprache sind nur oberflächlich vorhanden. Jeder Sprechakt und jeder Text ist auch immer soziales Handeln. Auch dieser Text hier nimmt sich davon nicht aus. Der Konsens entsteht im Nachvollzug des Austausches. Dieses kann wohlwollend sein aber auch konfrontativ und feindseelig. „Die Maske ist eine Grundrechtsverletzung.“ lässt sich auf die eigentliche Aussage zusammenstreichen „Ich bin verletzt.“ und ihre Verletztheit ist die Begründung andere zu verletzen. Die soziale Dissonanz beginnt schon dort, weil sie nicht fähig ist, dieses auszudrücken. Es hängt aber auch unmittelbar mit dem Umgang in der Gesellschaft mit menschlicher Verletztheit und seelischen Befindlichkeiten zusammen. Scheinbar hat sich unsere Kultur darauf versteift, dass es nach Möglichkeit einen naturwissenschaftlich nachvollziehbaren Grund geben muss. Gründe die ausserhalb einer Objektivität liegen, scheinen nicht anerkannt zu sein. Es ist für mich dabei durchaus erklärlich und im konkreten Fall nur eine Vermutung, dass jene Frau möglicherweise auch objektive Erkenntnisse des Klimawandel ablehnen würde. Zumindest gibt es in jenen sozialen Gruppen eine starke Korrelation.

Es treten für meine Begriffe psychische Störungen in einem immer grösseren Ausmaß zu Tage, die sich dann in sozialen Dissonanzen zeigen. Nur möglicherweise sind diese psychischen Störungen verursacht durch eine Gesellschaft, die selbst nicht gesund ist. Gary S. Becker, der zum Beispiel mit der Rational Choice Theory wirtschaftliches Handeln beschreiben wollte, vergaß dabei jegliche menschlichen Werte. Zwar ist die Spieltheorie von John von Neumann richtig, aber John von Neumann war sich durchaus bewusst, dass es einen Knackpunkt gab und gibt. Generationen von Wirtschaftswissenschaftlern zitierten aber falsch, wenn sie schrieben, weil wir nach John von Neumann messen können, folgt dies und das. Genau hier liegt ein sehr schweres Defizit. Das hat er nie behauptet. Er hat nur eine These vorangestellt, wenn wir messen können, dann können wir dies und das tun.

Der Mensch in seinen inneren Werten und in seinen jeweiligen Überzeugungen ist als Einzelner aber so nicht messbar. Jedes einzelne Individuum nimmt in seiner Unterschiedlichkeit einen eigenen Standpunkt ein. Ja ich könnte fast behaupten, jeder einzelne Mensch ist ein eigenes Universum für sich. Was der einzelne versteht und begreift ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Aber hierbei sind wir von Geburt an soziale Wesen. Die kleinste Gruppe, die möglich ist, ist eine Mutter mit ihrem Kind. Sprachgemeinschaften und Gruppenbildungen sind hierbei vollkommen normal und selbstverständlich. Jedoch erlernen wir unsere Sprache nicht reflektiert. Klitzekleine Unterschiede mag es da schon zwischen Mutter und Kind geben. Selbst wenn die Mutter meint, dass ihr Kind etwas verstanden hätte, muss das nicht der Fall sein. Philosophisch wird manchmal auch die Farbwahrnehmung bemüht, würde ein Kind nur schwarzweiss sehen, dann würde es treffsicher die gleichen Farben wie die Mutter benennen können, welche farbig sieht.

„Eine Maske ist eine Grundrechtsverletzung.“ ist eben mehr als eine irrige Aussage, sondern ein Protest einer Sprachgemeinschaft, die immer größer wird, die sich nicht auszudrücken vermag. Ja möglicherweise bewusst Begriffe verdreht, weil nämlich auch diejenigen, die sie angegriffen haben, mit vermeintlicher Rationalität argumentierten. Tatsächlich ist unser wirtschaftliches Handeln komplett irrational geworden und verdient den Begriff „Wirtschaften“ eigentlich gar nicht mehr. Auch hier waren die Profiteure nicht ehrlich und arbeiteten mit einer Pseudorationalität. Mathematische Figuren sind nicht zwangsläufig wahr, nur weil es Mathematik ist. Den Zahlen müssten menschliche Werte gegenüberstehen, was sie häufig genug nicht tun. Ich behaupte die soziale Dissonanz der verschiedenen sozialen Gruppen entstehen durch ein ständiges sich selbst belügen und zwar auf allen Seiten. Das sich die Lage dabei so zugespitzt hat, dass jene Frau das Leben einer Rollstuhlfahrerin riskiert nur aufgrund ihrer eigenen Verletztheit, ist eine Katastrophe.

Hierbei muss aber auch klar gesagt werden, dass die Dissonanzen durch alle Gruppen gehen. Die False Ballance im Journalismus befördert diese Konflikte sogar noch. Wir schlittern im Sprachgebrauch in Fronten hinein, wo jeder sinnvolle Austausch irgendwann unmöglich wird. Da ist aber auch das Parlament mit daran beteiligt, weil die Grundrechte nicht als Handlungsmaxime betrachtet werden, sondern ständig ausgetestet werden, ob sie nicht ein bisschen verschoben werden könnten. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ wird hierbei nicht als Leitmaxime verstanden und im Wortsinne begriffen, sondern schon vom Bundesverfassungsgericht mit einem juristischen Konstrukt umgangen. Dem Gericht war schon in einer frühen Phase bewusst, dass das Ziel zu hoch gesteckt sein könnte und behauptete in ein paar Urteilen schlicht, dass die Verletzung der dem Menschen innewohnenden Würde so nicht stattfinden könnte.

 

In den 73 Jahren fand also eine Aushöhlung menschlicher Werte statt und somit sind jene Menschen, die sich nun dagegen auflehnen nur ein Ausfluss des gesamtgesellschaftlichen Handelns der letzten Jahrzehnte. Der Mensch wurde immer mehr zu einem Objekt und seine individuellen Werte wurden und werden ignoriert. Eine Kritik wiederum daran wird erschwert, wenn sie nicht richtig formuliert ist. Ich weiß nicht, wie wir die zunehmende Aggression in der Gesellschaft heilen wollen und ob wir sie noch heilen können. Möglicherweise ist das aber dann auch unser Untergang. Wenn wir nicht bald einen gesamtgesellschaftlichen Konsens herstellen, werden wir in diesen sozialen Kleinkriegen uns selbst töten und zwar die gesamte Menschheit.